Nordhessische … Abschaffung der Sicherheit?

Abstract

Nicht erst im Zuge der Black Lives Matter Bewegung taucht die Forderung nach der Abschaffung der Polizei, bzw. seit sehr viel längerer Zeit aus verschiedenen tendenziell anarchistischen Strömungen (links, mitte und rechts) die Abschaffung sämtlicher Sicherheitsorgane, auf. Dahinter stecken Fälle von Machtmissbrauch beim Ausüben des Gewaltmonopols sowie die Vorstellung einer kooperativen, friedlichen und gewaltfreien Gesellschaft. Faktisch steckt dahinter Anarchie, die schnell zum »Recht des Stärkeren« werden kann.

Das staatliche Gewaltmonopol

Theorie …

In Deutschland (und vielen anderen Staaten) besitzt die Polizei das staatliche Gewaltmonopol. Handelt es sich dabei auch noch um Rechtsstaaten, werden Konflikte nach definierten Regeln durch staatliche Organe gelöst. Waffenbesitz ist hier die wohl begründete und vorher geprüfte Ausnahme für genau definierte Zwecke – „unmittelbarer Zwang“ gehört nicht dazu. Und statt Selbst- oder Willkürjustiz „auf dem Scheiterhaufen“ wird Recht gemäß demokratisch verabschiedeter Gesetze gesprochen.

Selbstverständlich ist auch die Polizei an Recht und Gesetz gebunden und wird darauf vereidigt. Die PolizistInnen durchlaufen (in Deutschland – die Situation bspw. in den USA ist eine ganz andere) eine mehrjährige Ausbildung um mit dem Gewaltmonopol verantwortungsvoll umzugehen. Nachweisbare Rechtsverstöße oder Missbrauch des Gewaltmonopols werden dementsprechend in einem Rechtsstaat geahndet und sanktioniert.

… und Praxis

Das im vorherigen Absatz auftauchende Wort nachweisbar ist in der Praxis ein Knackpunkt: Es tauchen immer wieder Fälle auf, in denen Rechtsverstöße nicht festgestellt werden können, weil

  • PolizistInnen ihre Aussagen im Sinne eines falsch verstandenen Corpsgeistes absprechen
  • den Aussagen von PolizistInnen vor Gericht mehr Glauben geschenkt wird, wenn es Aussage gegen Aussage steht
  • PolizistInnen gegen PolizistInnen ermitteln
  • PolizistInnen im Einsatz nicht identifizierbar sind

Solche Fälle sind dabei statistisch selten genug, dass die Normalbürgerin damit nicht in Kontakt kommt und daher der Polizei regelmäßig ein hohes Vertrauen gegenüber ausspricht, während es bei den Betroffenen zu einem herben Vertrauensverlust kommt. Ein Vertrauensverlust in die Hüter des Gewaltmonopols ist allerdings gesellschaftlich mehr als problematisch …

Eine Fehlerkultur

Die naheliegendste Lösung für die angesprochenen Probleme ist die Implementierung einer Fehlerkultur und eines entsprechenden Umgangs – in Anlehnung an Felix von Leitners Ratschlägen fürs Management bei der ownCloud Conference 2018:

  • Fehlerkultur (gefundene Bugs feiern, niemanden bestrafen)
  • Feedback (Bugs vom Verursacher fixen lassen)
  • Werte kommunizieren (Qualität!)
  • Zeit zum Lernen geben
  • Angemessen bezahlen!

Aus dem akademischen Bereich kennt man das Peer Review, in der Software Audits, im Juristischen die Unbefangenheit – und die Antwort heißt in allen Fällen, dass „vier Augen mehr als zwei sehen“, zumal wenn diese Augen unvoreingenommen sein sollen. Dies wird seit langer Zeit auch für die Polizei gefordert, deren MitgliederInnen sich oft als Teil einer „Familie“ verstehen. Bislang haben allerdings die Interessensverbände der Polizei sowie die Politik alle Anstöße in Richtung einer unabhängigen Ermittlungsbehörde abgeblockt. Und während der Normalbürger weiterhin nichts zu verbergen haben sollte, wird die simple Forderung nach einer eindeutigen, pseudonymisierten Kennzeichnung von PolizistInnen als „Misstrauen“ angesehen.

Den hier genannten Aspekt der „Befangenheit in der Familie“ vs. des externen Blicks behalten wir für die folgenden Gedanken im Hinterkopf.

Niemand muss Polizist werden

Stimmt …

Dieser in manchen Kreisen populäre Hinweis ist fast genau so schnell hingesagt wie die Buchstaben ACAB irgendwo hingetaggt werden – und wie bei allen plakativen Sprüchen ist klar, dass inhaltlich nicht viel dahinter steckt, die Welt darum komplexer und eigentlich das Gegenteil des Spruches der Fall ist.

Natürlich haben wir in Deutschland nach Artikel 12 des Grundgesetzes Berufsfreiheit, es muss also tatsächlich niemand irgendeinen Beruf ausüben. Das heißt aber weder, dass man bestimmte Berufe nicht ergreifen sollte, noch dass diese unnötig oder weniger wert sind.

… Aber

Wenn wir von der aktuellen Gesellschaft ausgehen und uns diese ohne Polizei vorstellen, so ist schnell klar, dass es dann kein Gewaltmonopol mehr gäbe. (Andere Institutionen, die stattdessen das Gewaltmonopol innehätten, werden von den genannten Kreisen nicht erwähnt.) Dementsprechend läge die Gewalt in den Händen jeder Einzelnen – entsprechend ihrer Stärke. Das Recht des Stärkeren ist allerdings undemokratisch, unfair und ableistisch, weil eingeschränkte Personen somit weniger Rechte hätten.

(Friedliche) Demonstration gegen die polnische Justizreform in Warszawa im Juli 2017. Wer würde bei weniger friedlichen Demonstrationen, z. B. bei Hooligans oder Neonazis, das Demonstrationsrecht durchsetzen (d. h. die Demonstrationsfreiheit und das Einhalten von Auflagen) sicherstellen? Diese Frage wird auch im Salonkolumnisten-Artikel Unsichere Sicherheit thematisiert.

Paradoxerweise kommt der plakative Slogan von Kreisen, die sich sonst als solidarisch, basisdemokratisch und gerecht ansehen. Eine polizeifreie Gemeinschaft mit einem gemeinschaftlichen Gewaltmonopol kann allerdings nur funktionieren, wenn sich alle Subjekte der herrschaftsfreien Idee „unterwerfen“. Für WGs und Kommunen kann das durchaus funktionieren, wobei die Realität zeigt, dass es auch dort Hierarchien und damit keine gleichverteilte „Gewalt“ gibt Und ab einer gewissen Größe kann nicht mehr alles per Plenum entschieden werden und erfordert spezialisierte Plena und damit Beauftragte und damit irgendwann beim Status Quo.

Oder wir bleiben in diesem Szenario bei einer komplett freien (anarchistischen) Gesellschaft, in der jede Schmied ihres Glücks ist. Wer kräftig genug ist, kann seine Rechte selbst durchsetzen, wer es nicht ist, hat entweder Pech, muss sich mit anderen zu „Gangs“ oder „Bürgerwehren“ zusammentun oder sich deren Schutz erkaufen. So manche Gruppe wird da schon „Angebote machen, die man nicht ablehnen kann.“

Eine solidarische Gesellschaft?

In der taz wurde vor Kurzem die Utopie einer verantwortungsvollen Gemeinschaft skizziert. Auf lange Sicht, mit entsprechender Erziehung und Bildung könne die Gesellschaft die nötige Verantwortung für das Gewaltmonopol übernehmen, so dass keine Polizei mehr nötig sei. Eine gegebenenfalls doch noch erforderliche Disziplinierung würde dann aus der Gruppe heraus erfolgen.

Diese Utopie ist aus zweierlei Aspekten interessant:

  1. Sie dreht die Gewaltenteilung wieder zurück, die Gruppe vereint mindestens Judikative und Exekutive.
  2. In der hier skizzierten Gesellschaft wird genau das propagiert, was oben im Fall der Polizei abgelehnt wird: Dass Konflikte nur innerhalb der Gruppe geklärt werden. Wer sagt, dass das in dieser Gesellschaft nicht weniger befangen und damit problematisch ist?

Im Artikel werden auch Grenzen einer solchen Gesellschaft besprochen und es ist klar, dass es weiterhin die „richtigen Mitglieder“ dafür bedarf, das Modell also nicht allgemeingültig ist. Die Frage ist dann, ob man eine solche abgegrenzte (und nicht offene!) Gesellschaft haben möchte, oder sich weiterhin zu einer offenen, pluralistischen und globalisierten Gesellschaft bekennt.

Eine bessere Republik!

In allen drei hier verlinkten weiterführenden Artikel klingt der Grundtenor nach einer besseren Gesellschaft oder Republik an:

  • Die in der taz vorgestellte solidarische Gesellschaft führt zu untereinander solidarischen, kooperativen und freien Individuen, die sich basisdemokratisch organisieren und so in kleinen Gruppen Konflikte per „Schiedsgericht“ klären können. Zudem betreibt diese Gesellschaft Aufklärung und Prävention, dass viele Konflikte gar nicht erst entstehen.
  • Der Artikel bei den Salonkolumnisten macht deutlich, dass es eines staatlichen Gewaltmonopols bedarf, wenn nicht das Recht des Stärkeren gelten soll. Jener Text – wie auch dieser hier – problematisieren Missbrauch des Gewaltmonopols und bemängeln die Fehlerkultur bei der Polizei, aber das sind Probleme, die sich im Zusammenspiel aus Polizei und Gesellschaft lösen lassen. Auch PolizistInnen sind StaatsbürgerInnen in Uniform.
  • Der Gastbeitrag bei Polizist=Mensch unterstreicht dabei die Notwendigkeit der (Staats-) BürgerInnen in Uniform und der Rückkopplung zwischen Gesellschaft und Polizei (natürlich ist auch eine Rückkopplung zur Legislative und Judikative notwendig). Die Polizei braucht den Rückhalt der Gesellschaft und die Gesellschaft muss sich auf die Hüter des Gewaltmonopols verlassen können. Dazu ist es unabdingbar, dass die Polizei gut ausgebildet und angemessen ausgestattet ist. Eine richtige Fehlerkultur zählt mit dazu.

Alle drei Aspekte greifen ineinander und haben das großartige Potenzial zu einer wirklich besseren und sicheren Gesellschaft mit einer besseren Sicherheitsarchitektur zu führen, in der die Polizei wirklich gute Arbeit leistet und deutlich weniger eingreifen muss. Der einzige „Knackpunkt“ dabei ist, dass so manche Extremposition in Richtung dieses Kompromisses des Zusammenlebens aufgegeben werden muss. Dafür ist dann das Ziel sehr vielversprechend.